Von Albert Wittwer
Interessiert sich die Gesellschaft für Kriminalität? Durchaus. Um sich zu schützen. Um sich zu gruseln, also zu unterhalten. Und um sich moralisch überlegen zu fühlen. Reflexhaft werden bei den unterhaltsamen negativen Nachrichten für bestimmte, besonders serientaugliche Delikte höhere Strafen oder neu, seit in Deutschland sogar ein Bub und zwei Mädchen andere Kinder ermordeten, die Herabsetzung der Strafmündigkeit gefordert.
Zur Erinnerung: Strafe ist anders als im Alten Testament nicht Vergeltung. Strafe soll bessern und wiedereingliedern – Das wird praktisch nie im Häfen erreicht. Oder Abschrecken. Das funktioniert bei Affektdelikten sowieso nicht. Und bei anderen wirkt vor allem die Aufklärungsquote.
Lästig und mühsam ist die Frage nach den Ursachen der Kriminalität. Noch mühsamer und oft kostspieliger ist es, an diesen Ursachen etwas zu ändern. Da passen Sündenböcke bequem ins Bild. Am besten eignen sich Individuen, die in ihrem Vorleben nicht auf die Butterseite gefallen sind und sich – etwa vor Gericht – nicht mit Staranwälten in jahrelangen Prozessen wehren können. Die Sündenböcke entheben uns aller Unbequemlichkeit, aller Fragen nach Veränderung, aller budgetären Vorsorge.
Viel angenehmer ist es für die Politik, auf unsere Kosten budgetäre Vorsorge für Regierungsinserate oder Inserate von regierungsbeherrschten Unternehmen zu treffen – und damit wohlwollend bis enthusiastische Berichterstattung zu kaufen, etwa „Deutschland beneidet uns um Sebastian…“ in einem – für die sparsamen Wähler-Leser – gratis erhältlichen Blatt. *) Regierungsinserate gibt es sonst in Westeuropa nirgends.
Zurück zu den getöteten Kindern. Ob der Tod beabsichtigt war, weiß man nicht. Aber er war gewaltsam, also mindestens Totschlag.
Es stellt sich die Frage, weshalb die Verletzungs- und Tötungshemmung, die uns eigentlich von Kind an begleitet, die in allen bekannten Kulturen zu den grundlegenden „moral instincts“ **) zählt, nicht wirksam war. Oder wird sie immer mehr herabgesetzt und wodurch?
Der US-Oberst Dave Grossmann hat detailliert beschrieben, wie in der Geschichte der Kriegsführung die Soldaten stets sorgfältig bemüht waren, ihren menschlichen Gegner nicht zu treffen, danebenzuschießen. Beispielsweise trafen die Franzosen mit 48.000 Kugeln 404 Deutsche. Im Vietnamkrieg war das Verhältnis 50.000 zu einem getöteten Vietcong. Bei einer unverhofften Begegnung einzelner Kämpfer gab es oft die spontane Übereinkunft, daß beide sich abwendeten, in Deckung gingen, als hätten sie einander nicht gesehen.
Das konnte die Militärführung nicht auf sich beruhen lassen. Seither werden die Soldaten ausführlich auch virtuell, mit Computersimulationen, die an „World of Warecraft“ erinnern trainiert, zu töten. Das Militär scheint dieses „Gewaltvermeidungsproblem“ vorab behoben zu haben. Schlimmer aber ist: Grossmann geht davon aus, daß die neuere, drastische Zunahme von Gewaltdarstellungen in den Unterhaltungsmedien die Zahl der Morde und Mordversuche auch in der Zivilgesellschaft der Staaten, in denen die Waffengesetze restriktiv sind, erheblich gesteigert hat. ***)
Dem trendigen Zeitgeist folgend bin ich zu faul, zu recherchieren. Also stellte ich Chat GPT die Frage, wieweit sich die Jugendkriminalität zwischen etwa 1995, dem Beginn des Internets und heute verändert, allenfalls zugenommen hat und ob es einen Zusammenhang zwischen den unzähligen, den Kindern und Jugendlichen zugänglichen Gewaltserien und Kampfspielen erkennen kann.
Beides wollte oder konnte Chat GPT nicht beantworten. Die banale Statistik wollte auch Chat GTP nicht kennen, noch weniger ausheben. Außerdem: Gewalt habe zu viele verschiedene Ursachen und sei auch vom häuslichen Kontext abhängig. Überraschung. Das wußten wir schon vorher. Meine Freundinnen und Freunde versuchen, ihre Kinder von diesem Schund fernzuhalten. Mühsam aber nicht unmöglich. Ich befürchte, die Schöpfer und Finanzierer von ChatGPT sind vor allem an der Aufrechterhaltung ihres Internet-Blasen-Geschäftsmodells interessiert. Da wirkt so eine Anfrage oder eine seriöse Antwort nur störend.
„Wer Wind säht (sähen läßt), wird (will?) Sturm ernten.“ Hosea 8/7
Anmerkungen:
*) Schlagzeile der Gratiszeitung „Österreich“ vom 14. Juni 2017
**) Jonathan Haidt: The Evolutionary Origins of Our Moral Instincts,
***) Dave Grossmann: On Killing, BackBayBooks, 1995 S. XVIII ff.