Von Peter Weber
Am 100. Tag der Invasion hat Präsident Wolodymyr Selenskyj die Widerstandskraft der ukrainischen Streitkräfte gelobt und zugleich bittere Zahlen präsentiert. Nach seinen Angaben sterben täglich 60 bis 100 Soldaten im Kampf gegen die Angreifer, bis zu 500 werden verletzt. Da jede Regierung im Krieg dazu tendiert, die eigenen Verluste zu beschönigen, lässt sich daraus ableiten, dass die Ukraine mindestens 10.000 tote Soldaten beklagt, während die Ausfälle insgesamt über 50.000 liegen.
Solche Verluste auszugleichen, hilft den Ukrainern allein der ungebrochene Siegeswille in allen Volksteilen und das Bewusstsein, dass es den Invasoren noch weit übler ergeht. Am Ende der Woche, die nach Ansicht der meisten Beobachter endgültig den Ausschlag zugunsten der Russen bringen sollte, gibt es einige Indizien, dass sich die russischen Stoßtruppen an dieser Opferbereitschaft im Bogen des Donez die Zähne ausbeißen.Während Anfang der Woche selbst der ukrainische Gouverneur Serhij Hajdaj den Verteidigern von Siewierodonezk maximal noch zwei Tage gab, konnten die Angreifer seither nirgendwo Boden gut machen und wurden in der umkämpften Stadt sogar zurückgedrängt. Ein Überblick über die gesamte Front von Charkiw bis Cherson bestätigt diesen Befund.Nördlich von Charkiw beschießen die Russen Borschowa und Wessele, das heißt, dass die Ukrainer beide Orte eingenommen haben und sich nun von mehreren Seiten dem Knotenpunkt Lypzi nähern. Die Russen halten hier mit Resten der 6. Russischen Armee, der Baltischen Flotte und einer gestrandeten Miliz aus Donezk ihre befestigte Stellung in Kosatscha Lopan und die Gegend um Lypzi.Weiter östlich haben sie angeblich die Ukrainer in Ternowa umgangen und bei Schestakowe einen Angriff auf die Straße nach Staryj Saltiw am Petschenihy-Stausee unternommen, aber sichtbare Beweise wurden nicht vorgelegt. Es scheint ganz im Gegenteil, dass die Ukrainer hier Zeit haben, ihre Kräfte zu sammeln. Verdächtig ist insbesondere die lange Funkstille der 92. Mech.Wegen der Gefahr für ihre Hauptversorgungslinie haben die Russen daher eine Bataillonstaktikgruppe zur Sicherung des Eisenbahnknotens Kupjansk abgestellt. Sie haben auch eine Eisenbahnbrücke repariert und suchen ihre Verteidigungsstellungen zu stärken.
Westlich von Isium haben die Russen nach dem Verlust von Welyka Komyschuwacha mehrere Versuche zur Wiederaufnahme der Offensive Richtung Barwenkowo unternommen, namentlich bei Virnopillya, Dibrovne und Kurulka, alle erfolglos. Daran konnte auch eine neue Staffel Kampfhubschrauber vom Typ Kamow Ka-52 „Alligator“ nichts ändern. Einer wurde angeblich von der 93. Mech abgeschossen. Nach Informationen des ukrainischen Generalstabs hat das russische Kommando die Kräfte um Isium deutlich aufgestockt, die Hauptstoßrichtung aber nach Südosten verlagert. Insgesamt habe der Feind 20 Bataillonstaktische Gruppen für den Angriff auf Slowjansk zusammengezogen.So bedrohlich sich dieser Aufmarsch auf dem Papier ausnimmt, ist allerdings nicht davon auszugehen, dass es sich um vollständige Kampfgruppen wie zu Beginn der Invasion handelt. Ein russischer Militärblogger mit dem Pseudonym Boytsowji Kot Murz berichtete am 3. Juni, dass fast die gesamte 35. Russische Armee im Raum Isium aufgerieben wurde, weshalb von zwei kompletten Brigaden, den 64. und den 38. separaten Garde-Mot-Schützen, weniger als 100 Mann übrig seien. In einem aufgefangenen Telefonat berichtete ein russischer Artillerist bereits einige Tage zuvor von ähnlichen Zuständen in der 36. RA, deren Befehlshaber Generaloberst Walerij Solodschuk bei einer Meuterei beinahe von den eigenen Soldaten getötet wurde. In der Einheit des Artilleristen waren von ursprünglich 600 Soldaten noch 215 übrig, mit kaum einer Handvoll einsatzfähiger Fahrzeuge. Beide Armeen, die 35. und die 36. RA, waren zu Beginn des Krieges nördlich von Kiew eingesetzt, wo sie bei den Kämpfen um Irpin nicht nur verheerende Verluste erlitten, sondern auch an Kriegsverbrechen in Butscha und Borodjanka beteiligt waren. Dass man die derart kompromittierten Einheiten bevorzugt auf Himmelfahrtskommandos schickt, entbehrt nicht einer gewissen Logik.
Ersatzkräfte heranzuführen scheint jetzt schwieriger als erwartet, weil immer mehr Einheiten den Befehl verweigern. So wurde bekannt, dass Milizen der „Volksrepublik Donezk“ ihren Einsatz in der Provinz Luhansk ablehnten. In umgekehrter Richtung dürfte es nicht besser aussehen, und zuletzt hieß es, dass sogar Wagner-Söldner einen Einsatz auf bestimmten Schauplätzen verweigerten. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass die Russen in Isium keine erfolgreiche Offensive zustande bringen. Seit Wochen mühen sie sich ab, auf der breiten Hauptstraße Richtung Slowjansk voranzukommen, doch bisher sind sie nicht an den ukrainischen Stellungen in Dovhenke und Bohorodychne vorbeigekommen.Ukrainische Blogger berichten, dass die Russen hier ihre elektronischen Abwehrmaßnahmen verstärkt haben, mit denen es ihnen gelungen sei, die Steuerung der ukrainischen Drohnen zu stören, weshalb ihr Einsatz zeitweise fast unmöglich war. Anscheinend musste die ukrainische Luftwaffe einspringen, die vielleicht aus diesem Grund ihre Angriffe zuletzt auf die Gegend um Dovhenke konzentrierte.Etwas besser scheint die Offensive in den Donez-Niederungen zu laufen. Hier sind russische Verbände nach der Einnahme von Lyman über Jarowa auf Swjatohirsk vorgestoßen. Der erste Angriff wurde Mitte der Woche jedoch abgewehrt. Zur Verteidigung halten die Ukrainer hier die 57. Infantriebrigade und die 81. Luftangriffsbrigade bereit.
Am Samstag war auch das antike Kloster von Swjatohirsk betroffen, und eine der berühmten Holzkirchen wurde in Brand geschossen. Präsident Wolodymyr Selenskyj beschuldigte das russische Militär, mit voller Absicht das kulturelle Erbe seines Landes zu zerstören, und forderte den Ausschluss Russlands aus der UNESCO. Einige Tage zuvor hatte er sich bereits für die Einstufung als „Terrorstaat“ ausgesprochen.Die Russen erneuerten unterdessen den Angriff auf Studenok im Norden. Am Samstag hieß es übereinstimmend, sie hätten nach Yaremiwka und Pasika auch Studenok eingenommen, weshalb die Ukrainer sich auch aus Sosnowe zurückzögen. Wegen des unübersichtlichen Geländes sind Zweifel an diesen Angaben berechtigt, doch sollten sie sich bestätigen, wäre Swjatohirsk die letzte Stellung der Ukrainer nördlich des Donez und könnte bald aufgegeben werden. In diesem Fall dürften die Russen ihren Angriff auf das gegenüberliegende Bohorodychne am südlichen Ufer erneuern, knapp 20 km nördlich von Slowjansk.Die zweite Achse der Annäherung auf Slowjansk führt südlich von Lyman über den Donez. Von Schurowe über Stary Karawan bis Brussiwka haben die Russen ihre Artillerie in Stellung gebracht und beschießen das südliche Ufer, unterstützt auch durch Kampfhubschrauber und Erdkampfbomber vom Typ Suchoi Su-25. Am 2. Juni haben ihre Bodentruppen einen ersten Angriff auf Raihorodok unternommen, aber das Gelände ist hier so schwierig, dass kaum mit raschen Erfolgen zu rechnen ist. Von Raihorodok sind es keine 10 km bis Slowjansk.
Was die Menschen in Slowjansk eventuell erwartet, ist unterdessen in Siewierodonezk zu beobachten, wo ein gnadenloser Häuserkampf entbrannt ist.Am Mittwoch hieß es übereinstimmend, der endgültige Fall der Stadt stehe unmittelbar bevor, die Ukrainer gäben auf und befänden sich auf einem geordneten Rückzug über die Pavlohrader Straße. Die letzten Verteidiger hätten sich in den Bunkern der Düngemittelfabrik Azot am westlichen Stadtrand verbarrikadiert. Russische Kommentatoren verglichen ihre Lage bereits mit dem Schicksal der Eingeschlossenen im Stahlwerk von Mariupol. Regionalgouverneur Serhij Hajdaj sagte in einer Videoansprache, die russischen Truppen hätten den größten Teil der zerstörten Stadt unter Kontrolle gebracht. Die verbliebene Bevölkerung solle in den Schutzräumen bleiben, weil ein russischer Luftangriff einen Tank in der Chemiefabrik getroffen habe, infolgedessen eine unbekannte Menge Salpetersäure ausgetreten sei.Die Lage der Zivilisten vor Ort ist ohnehin katastrophal. „Wir befürchten, dass bis zu 12.000 Zivilisten in der Stadt im Kreuzfeuer gefangen sind, ohne ausreichenden Zugang zu Wasser, Lebensmitteln, Medikamenten oder Strom“, erklärte Jan Egeland von der Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council. Laut Bürgermeister Olexandr Strijuk ist die Versorgung mit Trinkwasser und Strom seit Wochen eingeschränkt. Angesichts der Situation hatte Gouverneur Hajdaj bereits Ende Mai einen taktischen Rückzug auf die andere Flussseite erwogen.Mitte der Woche schien es deshalb, als solle der Rückzug über den Donez die nächste schwere Prüfung für die ukrainische Armee werden. Experten hoben hervor, dass die Schwesterstadt Lyssytschansk auf ihrem Hügel hoch über dem Fluss den Ukrainern wesentlich bessere Verteidigungsmöglichkeiten bieten könne, weshalb dies sicher eine vernünftige Lösung sei. Eigentlich warteten alle nur noch auf den Befehl. Am Donnerstag verlautbarte zunächst nichts Neues, doch am Freitag überraschte Gouverneur Hajdaj mit der Nachricht, die Ukrainer in Siewierodonezk hätten etliche Straßenzüge zurückerobert, man halte wieder fast die Hälfte des Stadtgebiets. Zur Erklärung hieß es später, man habe die Angreifer durch den vorgetäuschten Rückzug in eine Falle gelockt und dann zugeschlagen. Danach habe man den Feind auf breiter Front bis in die Vororte Metjolkine und Woronowe verfolgt. Besonders die tschetschenischen Garden hätten schwere Verluste erlitten. Auf ukrainischer Seite waren auch Kämpfer der Internationalen Legion beteiligt. Am folgenden Tag zählte man vier tote Ausländer, einen Australier, einen Franzosen, einen Niederländer und einen Deutschen. Die Georgier haben seit Einsatzbeginn bereits elf Gefallene zu beklagen. Laut Präsident Selenskyj haben sich rund 20.000 internationale Kämpfer den ukrainischen Streitkräften angeschlossen.
Am Samstag nahmen die Russen ihre Offensive wieder auf. Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs hat das feindliche Kommando die mobile Reserve der 2. Russischen Armee zur Verstärkung geschickt. Zuvor hatten Beobachter in Siewierodonezk bereits Elemente der 5., der 8. und der 58. Russischen Armeen identifiziert, sowie verschiedene Luftlandedivisionen, Teile der 90. Panzerdivision, die bereits erwähnten Tschetschenengarden und die zwangsverpflichteten Milizen aus dem Donbass, die häufig die schwerste Last zu tragen haben und deshalb immer deutlicher ihren Unmut zum Ausdruck bringen. Viele der eingesetzten Einheiten haben seit drei Monaten keine Minute Ruhe gehabt.Der Straßenkampf tobt nun wieder im Stadtzentrum. Auch die südlichen Vororte Borowske, Ustyniwka und Toschkiwka sind weiter umkämpft.
Die ukrainische Front von Metjolkine bis Hirske scheint damit zu halten. Auch aus Wubriwka wurden die Russen wieder herausgeworfen. In diesem Bereich haben die Angreifer seit einer Woche keinen entscheidenden Durchbruch mehr erzielt, und gleiches lässt sich für die gesamte Ausbuchtung um Popasna sagen. Die Straße von Bachmut nach Lyssytschansk ist weiter frei, auch wenn sie unter Beschuss liegt und ihre Benutzung nicht ungefährlich ist.In westlicher Richtung haben die Russen verschiedene Vorstöße Richtung Soledar und Bachmut unternommen, aber die Ukrainer haben in allen Fällen mit unglaublich präzisem Artilleriefeuer geantwortet, bis den Angreifern die Lust verging. So hieß es von ukrainischer Seite, man habe der 150. Mot-Schützen-Division bis zu 50% Verlust an Fahrzeugen und Personal zugefügt. Seit die ukrainische 45. Artilleriebrigade westliche Geschütze vom Typ M777 und FH70 erhalten hat, wird jedes gesichtete Fahrzeug in wenigen Sekunden aufs Ziel genommen und mit tödlicher Präzision vernichtet.Unter solchem Sperrfeuer ist der russische Schwung vollkommen erloschen, und der einzige Ort, den die Ukrainer in dieser Woche nachweislich verloren haben, ist das weit vor ihrer Hauptlinie gelegene Pylypchatyne.Im gesamten Abschnitt von der ehemaligen Demarkationslinie bis zum Dnjepr gab es nur geringfügige Veränderungen an der Front, obwohl das Sterben weitergeht.Dafür sorgt auch der fortwährende Beschuss durch Artillerie und Raketen. In der Nacht zum Sonntag wurde nach langer Pause auch wieder Kiew zum Ziel russischer Bomber, die ihre Lenkwaffen aus sicherer Distanz über dem Kaspischen Meer abfeuerten.Unter der Woche wurden Dutzende weitere Städte beschossen, darunter Sumy, Charkiw, Kramatorsk, Saporischschja, Mykolajiw und Odessa. Eine Rakete schlug in der Nähe eines Atommeilers ein. Nach Einschätzung von Armeesprecher Igor Konaschenkow in Moskau ist jeder Schuss der „russischen Präzisionswaffen“ ein Treffer, der tonnenweise Kriegsmaterial vernichtet und hunderte feindliche Kämpfer unschädlich macht. Die ukrainische Zählung der zivilen Opfer ist präziser.
Jenseits des Dnjepr in der Provinz Cherson ist die ukrainische Offensive ins Stocken geraten, ihre Gewinne sind überschaubar. Die Russen behaupten, sie hätten die Angreifer aus Kostromka und Bruskynske zurückgedrängt. Mit Davydiv Brid und Bilohirka haben die Ukrainer immerhin einen Brückenkopf auf dem linken Ufer des Inhulets erobert. In den südlichen Provinzen stoßen die Assimiliationsversuche der Besatzer nach wie vor auf beachtlichen Widerstand der Bevölkerung. In Mariupol verschäften die Russen deshalb das berüchtigte Regime der „Filtration“, die Suche nach ukrainischen Aktivisten. Tatsächlich war das ukrainische Volk wohl niemals so einig wie heute. „Sogar in der Politik gibt es bis auf Kleinigkeiten fast keine inneren Zerstrittenheiten mehr“, urteilt der Politologe Petro Oleschtschuk. „Man ist siegessicher, auch wenn keiner direkt an Wunder glaubt. So versteht man, dass Halbschritte wie eine Art neues Minsker Abkommen sinnlos sind und das Russland-Problem diesmal wirklich gelöst werden muss.“ Wenn Moskau durch seinen Angriff zeigen wollte, dass die Ukraine als Nation nicht existiert, dann habe es das genaue Gegenteil erreicht. „Sie ist noch viel stärker geworden, und es gibt sie auch eindeutig in besetzten Städten wie Cherson und Melitopol.“ Langsam aber sicher dämmert auch in Moskau das Bewusstsein, dass man diese Menschen nicht niederhalten wird. Der Duma-Abgeordnete Alexej Schurawljow hat deshalb in einer Fernsehshow eine radikale Lösung vorgeschlagen, die Ermordung von zwei Millionen Ukrainern, notfalls auch durch einen vernichtenden Atomschlag gegen das Land. Sein Ansinnen blieb unwidersprochen.
Die Häfen Berdjansk und Mariupol wurden unterdessen für den Seehandel geöffnet. Der Abtransport geraubter Güter, vor allem Getreide und Stahl, ist in vollem Gange. Die erbeuteten Schiffe wurden der „Donezker Volksrepublik“ überlassen und sollen nach dem Willen von Interimspräsident Denis Puschilin nun den Kern ihrer Handelsflotte bilden. Die Ukrainische Botschaft in Beirut meldete, dass bereits 100.000 Tonnen ukrainischer Weizen nach Syrien verkauft wurden. Die russische Flotte blockiert unterdessen 22 Millionen Tonnen Getreide in Odessa.Die drohende Hungersnot in Teilen der dritten Welt steht immer noch im Mittelpunkt der internationalen Debatte. Gegenüber dem senegalesischen Staatspräsidenten Macky Sall, der als Vorsitzender der Afrikanischen Union im Kreml seine Besorgnis zum Ausdruck brachte, wies Wladimir Putin jede Verantwortung von sich und bot an, die Ausfuhr ukrainischen Getreides über die eroberten Häfen zu erlauben. Als ersten Beitrag zum Kampf gegen den Welthunger bombardierte das russische Militär am Sonntag den Kornspeicher im Hafen von Mykolajiw.
Die Bereitschaft, sich auf eine diplomatische Lösung einzulassen, scheint zur Zeit jedoch auf keiner Seite gegeben.
Für Putin wäre jede Art von Waffenstillstand kaum mehr als ein lästiger Zwischenschritt auf dem Weg zur Zerschlagung der Rest-Ukraine, ganz ähnlich wie Hitler im September 1938 das Münchner Abkommen bewertete, das ihn auch nicht davon abhielt, ein halbes Jahr später die Liquidierung der wehrlos gewordenen Rest-Tschechei anzuordnen. „Unabdingbare Priorität“ sei die Einnahme des Donbass, steckte Außenminister Sergej Lawrow das Kerninteresse der russischen Politik ab. Diese Eroberung ist aber noch lange nicht abgeschlossen, und wegen solcher Vorgaben des Kremls ist in Moskau immer noch keine substantielle Gesprächsbereitschaft erkennbar. Für eine vertragliche Beilegung des Konflikts müssten auch unzählige Einzelfragen gelöst werden, und dass Präsident Putin überhaupt noch den Nerv für solche Detailarbeit aufbringen würde, darf man getrost bezweifeln.
Die Ukrainer andererseits sehen sich wegen der aktuellen Lage an der Front im Nachteil. „Die Verhandlungen sollen fortgesetzt werden, wenn unsere Verhandlungsposition gestärkt ist,“ erklärte der Kiewer Chefunterhändler David Arachamija im ukrainischen Fernsehen.Die dramatische Krise in Siewierodonezk hat mehrere westliche Regierungen bewogen, die Waffenlieferungen noch einmal aufzustocken, und darum ist man in Kiew zu keinen Konzessionen bereit, solange das ukrainische Militär keine Gelegenheit hatte, diese Karte auszuspielen. Die größten Verbesserungen erwartet man insbesondere von den neuen Mehrfachraketenwerfern. Nach Ansicht von Militärgouverneur Serhij Hajdaj braucht die ukrainische Armee vor allem Artilleriesysteme mit einer hohen Reichweite, um die feindliche Artillerie zurückzudrängen, „dann wird auch die Infanterie an die Grenze fliehen.“Beide Seiten haben enorme Verluste zu beklagen, und so kommt es am Ende auf den Durchhaltewillen an. Der steht bei den Ukrainern außer Zweifel. Selbst wenn sie sich in Videos mitunter heftig über die Last des ungleichen Kampfs beschweren, wissen sie doch, dass sie um das eigene Land kämpfen und keine Alternative haben, weil der Feind nichts weniger als ihre Vernichtung plant. Solange man ihnen adäquate Waffen und kompetente Offiziere gibt, werden die ukrainischen Freiwilligen weiterkämpfen. Ganz anders sieht es bei den Russen aus. Zuletzt wurden mehrere Videos veröffentlicht, in denen sich russische Soldaten über mangelhafte Ausrüstung und ausbleibende Versorgung beklagten. In einem abgefangenen Telefonat gestand einer der Soldaten, man habe einen Hund geschlachtet, um endlich wieder ein Stück Fleisch in den Magen zu bekommen. Auch die medizinische Versorgung scheint auf niedrigstem Niveau. Die Logistik ist nach wie vor einer der deutlichsten Schwachpunkte der russischen Kriegsführung. So scheint sich am Ende das Wort von Wolodymyr Selenskyj zu bewahrheiten, der in einer Videobotschaft sagte, die russische Armee habe vor dem Angriff den Ruf als zweitstärkste der Welt gehabt, doch geblieben seien nur „Kriegsverbrechen, Schande und Hass“.
Aus den genannten Gründen ist es möglich, dass die Moral der Russen von einem Tag auf den anderen bricht. Je mehr Putin sie zum Angriff drängt, desto eher dürfte dies geschehen, muss aber nicht. Die Lage ist auch deshalb explosiv, weil das russische Offizierskorps verheerende Verluste erlitten hat und erfahrene Unteroffiziere, die als Vermittler einspringen könnten, traditionell Mangelware sind. Nach Erkenntnissen des britischen Geheimdienstes müssen deshalb häufig jüngere Offiziere die operative Gefechtsführung übernehmen, wodurch die Ausfallrate noch weiter in die Höhe getrieben wird. Um die Gefahr eines Rückschlags oder gar einer Meuterei abzuwenden, haben manche Einheiten an weniger wichtigen Frontabschnitten nun begonnen, sich einzugraben. Viele Beobachter erwarten deshalb für die zweite Jahreshälfte einen langwierigen Stellungskrieg. Die Aussicht ist nicht verlockend, aber sie scheint auch keineswegs besiegelt. Denn für einen Spieler, der so hoch pokert wie Putin, gibt es kein Patt. Das wusste bereits Napoleon Bonaparte: Wer einmal auf Einschüchterung setzt, der darf nicht nachlassen, die Feinde vor sich herzutreiben. Bleibt er stehen, dann geht es unweigerlich zurück, unverzüglich und ziemlich weit. Auf Halten spielen, ist für solche Glücksritter keine Option.
Teile der vorstehenden Darstellung beruhen auf Informationen, die von Tom Cooper, dem Institute for the Study of War und der Website MilitaryLand gesammelt wurden. Es wurden aber auch andere Quellen einbezogen und in den Zusammenhang gestellt. Aufgrund des Kriegsnebels lassen sich die meisten Informationen in diesem Bericht nicht unabhängig überprüfen oder anderweitig bestätigen. Sie entsprechen lediglich einem vorläufigen, unvollständigen und ungesicherten Kenntnisstand und sind daher mit Vorsicht zu genießen.