Noch nie gab es so viele psychische Störungen, Depressionen, Lebensverdruss bei jungen Leuten – sagen die Experten.
Von Dr. Albert Wittwer
Wir sind nicht überrascht. Für die Älteren ging es in Europa nur voran, der Wohlstand wuchs, die Natur hielt vermeintlich noch alles aus, war beliebig konsumierbar. Für jeden angeblich leistbar: Das Einfamilienhaus im Grünen, womöglich mit Bootsanlegestelle und Doppelgarage. Das ist vorbei.
Das vollgemüllte Internet ist für eine heile, analoge Welt kein Ersatz. Das Chatten nicht mal ein Surrogat für echte Begegnung mit Menschen.
Vor einigen Jahren, das World Wide Web war schon aktiv, fand ich ein Gedicht.
Heart be strong
as a burden beast
Common, clumsy, oxish,
Sunlit, kind.
Mein Englisch oder Deutsch ist nicht gut genug, es adäquat zu übersetzen. Aber es eignet sich als Mantra.
Wir sollen nicht anstreben, die Besten, Schönsten, Schnellsten, Reichsten, Coolsten zu sein. Das starke, gute Herz im Deutschen und Englischen hat eine moralische, emotionale Komponente. Das Lasttier ist bescheiden. Es trägt die Lasten von anderen, nicht bloß die eigene.
Es hält sich nicht für außergewöhnlich, das englische common ist zugleich das Gemeinsame, das Verbindende, was man mit Mitmenschen teilt. Wie gut lebt es sich, wenn man niemand besonderes ist und sein will. Man flaniert unauffällig am Bodenseeufer. Das Restaurant, das nur für Prominente reserviert, es möge uns gestohlen bleiben.
„Clumsy“. Das Herz darf durchaus linkisch, braucht nicht modisch zu sein. Es will keine Celebrity imitieren. Der Ochs ist das Sinnbild der Beharrlichkeit, möglicherweise stur, eher frei von Lastern.
„Sunlit“. Dass uns die Sonne scheint, mögen wir froh bemerken. Das Zwitschern der Vögel, das Summen der Bienen, das Duften der Blumen. Wir müssen sie nur sehen, beachten. Es ist auch das Gegenteil von Nacht, Kaos und Dunkelheit. In einem zivilisierten Kleinstaat, der der mit politischem Geschick der Europäischen Union beigetreten ist, scheint uns und den Mitmenschen – im weltweiten Vergleich – die Sonne.
Das englische „kind“ ist mehr als freundlich, es ist herzlich, wohlmeinend.
Kann es sein, dass die Lebensziele, die der marktwirtschaftliche Kapitalismus, unterstützt durch soziale Medien (Influencer!) noch immer predigt, erkennbar untauglich sind? Und dass die jungen Frauen und Männer, noch auf der Suche nach ihrem Lebensentwurf, erkennen, dass sie in den April geschickt werden? In der Tradition der österreichischen Existenzphilosophie mag es Sinn genug sein, dieses Herz zu bewahren, das Lucie Brock-Broido so anmutig beschrieben hat.
Anmerkungen:
- Lucie Brock-Broido, amerikanische Dichterin, *1956; + 1980. In „A Hunger“, „Heartbeat“.
- Viktor Frankl: „Wer Sinn sucht, findet Heilung“.
- sh.a. Alfried Längle, Existenzanalyse