Es wird oft hemmungslos behauptet und als Selbstverständlichkeit betrachtet, dass in Staaten Europas eine Trennung von Kirche (Religionen) und Staat existiere. Diese Trennung gibt es aber nur in Frankreich. Das Verhältnis der Staaten zu den Religionen ist gekennzeichnet von vielfacher Verflechtung, die bei den Mitgliedern in entsprechender Einstellung und angepasstem Verhalten sichtbar wird. Beispielsweise sind 52,2 % der Österreicher Kirchenmitglieder, aber 90 % davon sind gesellschaftlich angepasste, opportunistische Karteileichen. Sie sind konform mit der inkonsequenten widersprüchlichen staatlichen Situation und zahlen widerwillig, in Österreich meist reduziert Kirchensteuer, da diese nicht wie in der BRD vom Staat automatisch über die Steuerleistung kassiert wird. Die Kirchensteuer-Behörden wagen es nicht, konsequent den gesetzlichen Beitrag rechtlich zu fordern, denn das würde viele veranlassen auszutreten. Würden die Einnahmen wie in Deutschland vom Staat eingehoben, müssten ca. 1,1 Milliarden Euro hereinkommen und nicht nur wie üblich ca. 403 Millionen.
Von Adi Untermarzoner
Aber durch diese inkonsequente Pseudotoleranz bleiben der Kirche viele Formalkatholiken erhalten und so setzt sich auch die pseudokatholische, bigotte und unehrliche staatliche Situation fort, obwohl die Kirche in der Einstellung und im Handeln der meisten Menschen bereits den Tod der Gleichgültigkeit und der Belanglosigkeit gestorben ist. Bei der Kirche zu bleiben, obwohl man die fundamentalsten Glaubenslehren einfältig und überholt findet, lässt auf eine fragwürdige Charakterstruktur der 90 % dieser Kirchenmitglieder schließen.
Die Ursachen dieser problematischen gesellschaftlichen Verhältnisse liegen in der philosophischen Geschichte des Abendlandes. Tausend Jahre war das Christentum in Europa Staatsreligion. Selbst noch nach dem Gebetbuch meines Vaters aus dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts musste ich die Kaiserhymne „Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser … (Melodie Haydnhymne) singen lernen. Von der Liaison Kaiser Franz Josefs I. mit der Schauspielerin Katharina Schratt wusste ich natürlich nichts. Das Mittelalter war eine rückschrittliche Epoche sowohl auf technischem als auch ethischem Gebiet und wird mit recht das „finstere Mittelalter“ genannt. Mit dem Beginn der Renaissance im 15. Jahrhundert, als man die heidnischen Texte wiederentdeckte, begannen die ersten Schritte in Richtung einer offeneren, humaneren Gesellschaft. Aber bald schon geriet diese Bewegung unter die Räder der weltlichen klerikalen Restauration und endete in lodernden Scheiterhaufen.
Den weiteren Verlauf schildert Niko Alm: „Erst mit den Verfassungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurden politische Systeme etabliert, die tatsächlich auch weltanschaulich-religiöse Neutralität vertraten. Die Autoren der Verfassung waren sich dessen bewusst, dass Weltanschauung und Religion Privatsache sein sollten, Religionsfreiheit ein Grundrecht ist und dass sich ein Staat nicht religiös begründen muss und sogar nicht darf. Konsequenterweise sollte es keine Diskriminierung oder Privilegierung von Religionen geben.
Und trotzdem konnte die Politik nicht von der Religion lassen. Warum?
Schuld daran ist schon die gerühmte Aufklärung selbst, die nicht den Mut fand, das Übernatürliche vollständig aus der Welt zu räumen. Beginnend bei Spinoza, bis zu Locke, Jefferson, Leibniz, Voltaire und all den anderen großen Köpfen der Aufklärung, waren die Formulierungen über Gott und die Religion so gewählt, dass ihr Atheismus gut verborgen und die persönliche Sicherheit jedenfalls gewährleistet blieb. Bei vielen der vorgeblich deistischen Denker ist der subkutane Unglaube unter der demütigen und oberflächlichen Gottesfürchtigkeit der Formulierungen spürbar. Angesichts der erwartbaren Konsequenzen ist es aber nachvollziehbar, dass der Schutz der eigenen Freiheit und des Lebens Vorrang hatte. Spinoza veröffentlichte seinen ‚Tractatus theologico-politicus‘ aus gutem Grund unter einem Pseudonym. Voltaire zog sich für viele Jahre in die Nähe von Genf zurück. Jean-Jaques Rousseau flüchtete nach Preußen und später nach England.“[1]
Erst die Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts vermochte der Idee der Menschenrechte neuen Auftrieb zu geben. Es dauerte weitere zwei Jahrhunderte bis zur 1948 verabschiedeten „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“. Der selig gesprochene Pius XI. reagierte darauf mit der Verdammung nahezu aller Errungenschaften der Moderne: Rationalismus, Naturalismus, Liberalismus, Demokratie und Trennung von Kirche und Staat. Erst Johannes XXIII. anerkannte die Menschenrechte, aber das war nur ein typisch klerikales Lippenbekenntnis. Der Machtapparat der Kirche hielt weiterhin am Führerprinzip des bedingungslosen Gehorsams fest. Kritische Theologen und Glaubensabweichler wurden rigoros abgestraft (zwar nicht mehr durch Scheiterhaufen, sondern durch Rede-, Lehr- und Veröffentlichungsverbote). Ein typisches Beispiel dafür in Österreich ist der Theologieprofessor und Ordinarius der Theologischen Fakultät Wiens, Hubertus Mynarek, der die Kirche verlassen hat. Sein Buch „Herren und Knechte der Kirche“, das auf die Bestsellerliste des Spiegels kam, beweist, wie verfilzt Staat und Kirche immer noch sind.[2]
Mit der Aufklärung aber wurden absolute religiöse Wahrheiten durch rationales Denken verdrängt. Die Naturwissenschaft lieferte bessere Erklärungen als die infantilen biblischen, angeblich absolut wahren göttlichen Lehren. Der despotische, sadistische Gott der Bibel war den aufgeklärten Menschen nicht mehr zumutbar, daher wurde sogar verboten, die Bibel zu lesen. Stattdessen wurde ein Gottesbild vermittelt, das mit dem Denken der vom Rationalismus infizierten Menschen kompatibel war. In den republikanischen Staaten wurden die Verfassungen nicht von einem übernatürlichen Wesen abgeleitet, sondern ausschließlich aus dem Auftrag jener, auf die sich der Geltungsbereich beziehen sollte, nämlich auf die Bürger des Staates. Bedauerlicherweise geschah das nicht so eindeutig wie 1787 in den Vereinigten Staaten, wo die ersten Worte der Präambel der Verfassung „We the people“ lauten. Im Gegensatz zu dieser Präambel kam in einigen europäischen Staaten wie der BRD, der Schweiz, Liechtenstein und weiteren Staaten immer noch ein Gottesbezug vor. In Österreich und in der EU gelang es nach aufwändigen Debatten, den der Aufklärung widersprechenden Bezug aus ein absolut vollkommenes und logisch widersprüchliches Wesen zu verhindern. Die Abkehr von Gott durch die Aufklärung bedeutet auch die Abwendung von absoluten Wahrheiten. Gott wird nicht durch den Menschen oder das Volk ersetzt. Es gilt die Verfassung, aber sie versucht nicht eine absolute Wahrheit zu definieren, sondern den gegenwärtigen Erkenntnisstand wiederzugeben. Diese wissenschaftlich erreichten Erkenntnisse und die davon abgeleiteten Gesetze sind nur vorläufig und sind offen für Revidierbarkeit und Optimierung. Der Idealzustand wird nie erreicht, denn es entstehen durch technologische Entwicklungen wie Digitalisierung, Gentechnik, Raumfahrt usw. völlig neue Erkenntnisse und entsprechende legistische Herausforderungen. Bei Sinnfragen und bei metaphysischen Fragen, zu denen Religion gehört, endet die Zuständigkeit des Staates.
Horst Dreier hat das in seinem Buch „Staat ohne Gott“ deutlich beschrieben: Eine Staatskirche wie im Mittelalter existiert nicht mehr. Der Staat hat eine neue weltanschaulich-religiöse Neutralität gewonnen. Daher hat er zwei wesentliche Selbstverpflichtungen einzuhalten. Das sind die institutionelle und die sachliche Nicht-Identifikation. Jede Form der Verklammerung staatlicher und kirchlicher Institutionen ist damit prinzipiell ausgeschlossen.
Verbot der institutionellen Identifikation
„Der Staat hat seinen Ort weder in der Kirche (als Kirchenregiment) noch über der Kirche (als Staatsaufsicht). Es besteht ein allgemeines Einmischungs- oder Interventionsverbot, was aber Kooperation nicht ausschließt.“ [3] Das bedeutet nicht weniger als das Gebot, Religion als private Angelegenheit zu betrachten, die nicht über institutionelle Verklammerung geregelt werden sollte. Der Staat darf nicht wie früher Pfarrer und Bischöfe (Kirchenregiment) einsetzen. Es ist ebenso eine staatliche Kontrolle über spezielle religiöse oder weltanschauliche Fragen verboten (Staatsaufsicht). Es geht den Staat nichts an, ob die Kirche es als absolute Wahrheit (Dogma) erklärt, dass Maria vor, während und nach der Geburt Jungfrau ist, oder dass im Koran steht, dass Märtyrer im Himmel Jungfrauen bekommen, bei denen nach der Defloration wieder das Hymen entsteht.
Verbot der sachlichen Identifikation
Es darf niemand zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder religiösen Übungen gezwungen werden. Der Staat darf den entsprechenden Einstellungen seiner Bürger weder Ablehnung noch Unterstützung entgegenbringen. Er darf insbesondere nicht Partei ergreifen, sich weder inhaltlich mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung identifizieren noch den Anschein dazu erwecken, was etwa für die staatliche Präsentation religiöser Symbole Bedeutung erlangt.
Diskriminierungsverbot
Die Innehabung bestimmter Rechte oder der Zugang zu einem öffentlichen Amt, unabhängig vom religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis, ist eine gleichheitsrechtliche Norm.[4]
Diese Verbote werden an allen Ecken und Enden nirgendwo eingehalten. Niko Alm erwähnt einige Beispiele aus seiner Zeit als Abgeordneter im Parlament: „Der Erzbischof von Wien, Christoph Schönborn, besuchte das Parlament in den Logen der Sitzungssäle. Ex-Innenminister Wolfgang Sobotka ließ Polizeistuben segnen. Seine Vorgängerin Johanna Mikl-Leitner überreichte päpstliche Orden an Beamte.“[5] In Vorarlberg traten bei verschiedensten öffentlichen Veranstaltungen die erzreaktionären Bischöfe Küng und Fischer auf.
Zudem hängen gegen das institutionelle Identifikationsverbot immer noch Kruzifixe, die Symbole sadomasochistischer Leidensverherrlichung[6], in Amtsstuben, Gerichtssälen und Schulen.
Im Dornbirner Krankenhaus befindet sich im 7. Stock ein überdimensionerter Kirchenraum und fast in jedem Krankenzimmer gibt es ein Kreuz und ein Neues Testament.
Im Koblacher „Haus der Generationen“ ist ebenfalls eine Kapelle eingebaut mit haarsträubend kitschigen Nazarenerfiguren vom heiligen, angeblich jungfräulichen Antonius von Badua mit dem Jesuskind auf dem Arm, von dem dieser eine Vision gehabt habe. Zudem ist ein ebensolch kitschiges Bild von der Jungfrau Maria zu bewundern, deren Jungfräulichkeit zwar dogmatisiert wurde, aber exegetisch unhaltbar ist.
Finanziert werden solche Räumlichkeiten und Kirchenrenovierungen zum Großteil von Gemeinde, Land und Bund.
Dem Personal wurde im Haus der Generationen befohlen, mit den Patienten das Tischgebet „Lieber Jesus sei unser Gast und segne was du uns bescheret hast.“ zu beten, obwohl weder Personal noch Patienten dies üblicherweise nicht praktizieren. Jedenfalls ist von Nichtidentifikation nichts vorhanden und die Schilderungen könnten unendlich fortgesetzt werden.
[1] Niko Alm, Ohne Bekenntnis, Residenz Verlag 2019, S. 138
[2] Hubertus Mynarek, Herren und Knechte der Kirche, Ahriman Verlag 2010
[3] Horst Dreier, Staat ohne Gott, Verlag C. H. Beck 2018, S. 98
[4] Ebd. Vgl. S. 98- 99
[5] Niko Alm, Ohne Bekenntnis, Residenzverlag 2019, S. 137
[6] Kultur, Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft, Download Kirchenkritik Teil 9