Etwa zwanzig Prozent der Vorarlberger Bevölkerung hat kein Wahlrecht. Diese erwachsenen Frauen und Männer arbeiten hier, zahlen Steuern, helfen in Vereinen und schicken ihre Kinder in die Schulen. Aber sie haben keine Stimme.
Von Dr. Albert Wittwer
Die Schere zwischen Bevölkerung und Wahlberechtigten dürfte allerdings weiter aufgehen. Seit der letzten Landtagswahl leben um vier Prozent mehr Menschen in Vorarlberg, die Zahl der Stimmbürger hat aber nur um 0,5 Prozent zugenommen. Viele der Betroffenen sind hier geboren. Sie werden jedes Jahr mehr. Eine Prognose von SOS Mitmensch besagt: Bis 2064 könnte mehr als ein Drittel der Einwohnerinnen und Einwohner Österreichs und mehr als die Hälfte Wiens vom Wahlrecht ausgeschlossen sein. Das liegt auch daran, dass Österreich bei Einbürgerungen so restriktiv ist wie kaum ein anderes Land. Zahlreiche Fachleute, Organisationen und Parteien orten ein Demokratiedefizit.
„Die abgegebene Stimme lässt Rückschlüsse auf die Resonanzsensibilität einer Demokratie zu… Sie können also nicht mit den Wahlberechtigten als Miteinander unter seinesgleichen in Erscheinung treten. Sie werden nicht gehört.“ *) Die „Opfer solcher Resonanzverweigerung fühlen sich wie von einer Eiswand umgeben. Es gibt kaum eine effektivere Mobbingstrategie“. **
Hannes Swoboda, damaliger Abgeordneter zum Europäischen Parlament, schlug deshalb im Jahr 2012 vor, politische Rechte auch Drittstaatsangehörigen zu verleihen. In Zeiten von Mobilität, Migration und Globalisierung braucht es, wollen liberale Demokratien demokratisch bleiben, nicht nur eine Veränderung des Staatsbürgerschafts-, sondern auch des Wahlrechts in Richtung Mobilität.
Nach meiner Wahrnehmung fallen bei meinen Landsleuten die (hohe) Zufriedenheit mit den persönlichen Lebensumständen und die Unzufriedenheit mit dem politischen System zusammen. Offenbar kann man selber ein ziemlich gutes Leben haben und zugleich befürchten, das Land gehe vor die Hunde. Der Ideale Sündenbock für diese Abstiegsangst ist der Fremde oder die Europäische Union. Ein archaischer, natürlicher Instinkt verleitet uns, biologisch noch immer in der Frühsteinzeit verankert, die eigene Gruppe zu schützen und die vermeintlich Anderen, die „Fremden“ zu diskriminieren. Aber dieser Zwiespalt ist für unsere eigene Weltresonanzfähigkeit ein großes Hindernis.
Ich möchte Robert Menasse zitieren. Er sagte im Juni 2024 in Sankt Arbogast: „Man könnte mit einem Stichtag damit beginnen, dass jeder Mensch, der in Europa zur Welt kommt, einen europäischen Pass bekommt… Dann begännen wir, unsere Zeitgenossenschaft zu respektieren…, könnten ausbrechen aus der Nationalismusfalle…“
Wer die Wahl hat, „hat eine Stimme. Die dialogische Beziehung wird in der politischen Stimmlichkeit“ verwirklicht. *) „Wer glaubt, man sei nur für die Mitbürger moralisch verantwortlich, die im selben Nationalstaat eingepfercht sind, hat alle anderen Menschen (und Lebewesen) damit direkt oder indirekt zu Freiwild erklärt. Deshalb ist der Nationalstaat so verwerflich – weil er ein gigantischer Irrtum bezüglich der Grundlagen der Moral ist.“***)
Weitere Zitate:
- *) Liz Hirn: Der Überschätzte Mensch; Zolnay
- **) Hartmut Rosa: Resonanz, dtv.
- ***) Markus Gabriel: Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten: Ullstein.