Der Lockdown aus dreierlei Perspektiven
Von Melina Heidecker
Vor Kurzem hatte ich die Möglichkeit, an einem Meeting über Zoom teilzunehmen, indem einmalig jeweils drei bis vier Personen weltweit über das Corona-Virus und die persönlichen Lockdown-Erfahrungen berichteten. Die Teilnehmerinnen an dem Meeting waren Harriet, eine 88-jährige Dame aus New Jersey, USA, Caroline, eine in Lausanne lebende Businessfrau, die ansonsten viel in Asien unterwegs ist und Kripa, eine junge Studentin die in Nordindien wohnhaft ist.
Das Gespräch wurde von Ellie, einer ehemaligen Brown-Studentin, die nun als Kreative in New York City lebt, geleitet und basierte auf einigen vorab festgelegten Fragen und einer anschließenden Diskussionsrunde.
Wie ist die Lage derzeit?
Kripa, Assam, Nordindien:
Kripa erzählt, dass Indien in Zonen unterteilt wurde. Es gibt grüne, orange und rote Zonen, je nachdem, wie stark sich das Virus in der Gegend ausbreitet. Die junge Studentin hat Glück: Die Militärbasis auf der ihr Vater stationiert ist, befindet sich in einer grünen Zone. Dennoch sind alle Restaurants und Läden geschlossen. In Indien wird sehr viel über lokale Apps bestellt. „Niemand muss das Haus verlassen“, erzählt Kripa. Mitte Mai gab es eine kurze Lockerung der Maßnahmen und die Likörläden durften aufsperren, was zu einem riesigen Tumult, Gedränge und Wartezeiten von bis zu vier Stunden vor den Läden führte. Teilweise wurden die Schlangen vor den Läden gewaltsam bekämpft und die Regierung führte in den Regionen eine Alkoholsteuer ein, die den Alkohol um bis zu 70% teurer machten. Kripas 85-jährige Großmutter sitzt alleine in der Isolation in Bangalore fest, da der Lockdown in Indien recht schnell und überraschend kam und alle öffentliche Verkehrsmittel still gelegt wurden. „Ihr Flug wurde praktisch in der letzten Minute abgesagt“, berichtet sie. Kripa und ihre Familie rufen sie täglich über eine Videokonferenz an, dennoch machen sie sich große Sorgen.
Harriet, New Jersey, USA:
Der Bundesstaat New Jersey hat die zweithöchste Todesrate in den ganzen Vereinigten Staaten nach New York. Es ist verpflichtend, eine Maske und Handschuhe zu tragen, wenn man das Haus verlässt, es herrscht kein Verkehr und die Straßen sind wie ausgestorben. Harriet hat zwar eine kleine Veranda, jedoch trägt sie sogar dort eine Maske. Beispielsweise als letztens ihre Enkelin zum Muttertag vorbei kam: Sie saß „maskiert“ in der einen Ecke auf der Veranda, ihre Großmutter am anderen Ende. Für Harriet, die sich selbst als eine sehr soziale Person beschreibt, ist es hart, auf die Familie und die Gemeinschaft, in der sie viel tätig ist, verzichten zu müssen. Dennoch nützt sie die freie Zeit um zu stricken, zu kochen, aufzuräumen und vor allem für Zoom-Meetings. „Neulich hatten wir ein Familien-Zoom-Meeting, an dem 54 Personen von überall auf der Weltteilgenommen haben“, erzählt sie lachend. Oder sie tauscht Essen mit ihrer Tochter aus, die Tochter bringe den Hauptgang und bekomme dafür ein Dessert. Die 88-jährige ist übrigens digital mindestens so gut informiert wie die heutige Jugend: Während dem gemeinsamen Zoom-Meetings klingelte ihre Smartwatch mehrmals, bis sie den Anrufer über die Uhr auch abwimmelte.
Caroline, Lausanne, Schweiz:
Da Caroline normalerweise beruflich sehr viel in Asien unterwegs ist, genießt sie die freie Zeit zu Hause sehr. Meistens ist es, aufgrund der beruflichen Situation von ihr und ihrem Ehemann so, dass sie sich immer nur für eine kurze Zeit gleichzeitig in Lausanne aufhalten. Aus diesem Grund haben sie die gemeinsame Zeit nun umso mehr geschätzt, es sei „beinahe, wie eine zweite Hochzeitsreise“ gewesen. Für Caroline besonders interessant an dieser Situation war, dass normalerweise ein gewisser Widerstand gegenüber geschäftlichen Videokonferenzen herrsche, doch jetzt, als alle praktisch dazu gezwungen waren, habe es wunderbar funktioniert und neue Möglichkeiten aufgezeigt. Auch wenn die Meetings über Zoom teilweise verwirrend waren, da manchmal unklar ist, wer was gerade gesagt hat, war sie sehr positiv überrascht. In der Schweiz herrscht keine Maskenpflicht, jedoch ist ein Mindestabstand von rund zwei Metern vorgesehen, der laut ihren Angaben vorbildlich eingehalten wird. Anders als in Indien, war es anfangs etwas schwieriger online Lebensmittel zu bestellen, die Website des Lebensmittelkonzerns „Coop“ brach zwischenzeitlich ein, weshalb sie auf lokale Angebote von Bauern umgestiegen ist. Mittlerweile ist die Website wieder online, jedoch ist das Angebot auf 100 Basisprodukte beschränkt, die Zustellung erfolgt innerhalb von zwei Tagen per Post. In den Läden selbst wurden die sogenannten „non-essential food“-Abteilungen mit Absperrband vom Rest abgetrennt.
Was haltet ihr von den Lockdown-Maßnahmen eurer Regierung?
An diesem Punkt sprang auch Ellie, die Diskussionsleiterin kurz ein, da diese Frage, vor allem in den USA, eine gesellschaftsspaltende Kontroverse ist.
Harriet war vor allem schockiert über das Vorgehen der Demonstrant*Innen in Michigan und der Reaktion von Trump, allzu verwundert ist sie jedoch nicht.
Ellie erklärte uns die Ansichten der Demonstrant*Innen damit, dass der Lockdown für einige Amerikaner*Innen „unamerikanisch“ ist, da sich diese in ihren persönlichen und ökonomischen Freiheiten beschränkt fühlen. Es sei ein bisschen wie damals im Unabhängigkeitskrieg, da es sozusagen ein „Norden gegen Süden“ gebe, weil die Ansichten der Gouverneure stark variiere. Der Norden stehe für die Kritiker von Trump, allen voran der Gouverneur des New Yorker Bundesstaat, Andrew Cuomo. Viele erachten die Handlungen von Cuomo als besser als jene von Trump, er übernahm sozusagen die Führungsrolle im Kampf gegen das Corona-Virus. Harriet und Ellie verstehen sich als „pro Cuomo“.
Kripa meint, dass die Maßnahmen des Lockdowns der indischen Regierung sehr schnell und streng waren, es gab recht wenige Fälle, angesichts der hohen Bevölkerungszahl. Jedoch kritisiert sie, dass alle öffentlichen Verkehrsmittel sofort eingestellt wurden und erzählt von den Wanderarbeiter*Innen, die nun zu Fuß, ohne Ausrüstung und Unterkunftsmöglichkeiten versuchen, nach Hause zu gelangen. Ihrer Meinung nach sollte die Regierung den Arbeiter*Innen Unterkünfte und Camps zur Verfügung stellen, was auch ein großer Kritikpunkt der indischen Opposition ist. Es gibt viele große Gesten die von der Regierung initiiert wurden, um die Ärzt*Innen, Arbeiter*Innen und Helfer*Innen zu ehren, beispielsweise das Klatschen oder Militärflugzeuge, jedoch wäre es besser, ausreichend medizinische Versorgungsmittel für die Krankenhäuser zu organisieren.