Von Dr. Albert Wittwer
Wer seinen Sohn liebt, züchtigt ihn.
Die Österreicher lieben das Strafen, das Einsperren. Und auch die Herrschenden lieben es.
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Jemand muß schuld sein. Bei jedem Schaden suchen wir nach der Ursache. Der Zufall oder das unausweichliche Schicksal sind nicht hoch im Kurs, das könnte auch uns selber treffen. Beging der Arzt bei der Behandlung einen Fehler, war der nicht geheilte Kranke ein starker Raucher? Wir schieben das Risiko mit der Schuldfrage von uns fort. Denn wir rauchen ja nicht (mehr).
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Manche Menschen handeln verletzend, absichtlich oder aus Nachlässigkeit. Dann gibt es klare Schuldige. Wir empfinden mit den Opfern. Wir sind empört. Die Empörung verlangt Rache. Offiziell ist das Auge-um-Auge, Zahn-um-Zahn zwar abgeschafft, es gehe um Prävention, Resozialisierung. Dazu in aller Kürze: Natürlich braucht es eine Sanktion, eine Reaktion der Gemeinschaft, vertreten durch den Staat. Aber die Rechtschaffenen handeln gerecht. Die anderen glauben, nicht erwischt zu werden
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Es ist üblich, daß die Regierenden uns Untertanen mißtrauen. Daher verfügen sie fast bei jeder Vorschrift eine Sanktion, falls wir nicht parieren. Und sie denken systematisch darüber nach, wie sie uns kontrollieren können. Dort, wo es Sinn machen würde, etwa bei Stopp Corona, verlieren sie dann aber, wenn es darauf ankommt, den Faden. Sie wollen zwar, Stichwort Digitalisierung, jedem Schulkind ein Tablet umhängen, beim Massentest braucht man dann aber Zettel und Kugelschreiber. Ausnahmen, etwa in Vorarlberg, wo das mustergültig digital funktioniert hat, bestätigen die Regel.
Selten sind Anordnungen, die bloß ein erwünschtes Verhalten beschreiben, etwa das Kindeswohl. Das Verbot, seine Kinder körperlich zu züchtigen, gegen sie Gewalt auszuüben, kam spät.
Die Autonomie des Menschen stellt im Rechtsrahmen oft die Ausnahme dar. Die Frau darf die Schwangerschaft bloß ausnahmsweise und befristet beenden. Jeder andere Abbruch ist eine Straftat. Der mißglückte Selbstmord wurde in der Monarchie militärstrafrechtlich verfolgt, wo käme man da hin, wenn sich der Soldat der befohlenen Tötungspflicht so schnöde entziehen könnte? Die Beihilfe zum Selbstmord ist in Österreich bis zum 31. Dezember 2021 noch strafbar. Nach dem Vorbild des deutschen Verfassungsgerichthofes, der Schweiz, der Niederlande und anderer Länder hat der Verfassungsgerichthof verlangt, daß Regelungen gefunden werden, nach denen etwa der schwer und aussichtlos leidende Mensch sich nicht von der Brücke stürzen muß. Falls er das überhaupt noch kann. Daß ihm in humaner Weise Hilfe geleistet wird, wenn er seinen letzten Weg antreten will.
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Die Glücklichen, die das Leben als von Gott geschenkt ansehen und sich in seiner Hand sehen, mögen das für sich so halten. Sie mögen nach Kräften eine warmherzige Umgebung schaffen, in der jedes Kind erwünscht und jeder Leidende betreut und getröstet ist. Natürlich muß man nicht religiös sein, um das anzustreben. Die Vorstellung, die Erben würden bloß durch das Strafrecht abgehalten, den lästigen Alten loszuwerden, scheint mir überaus naiv. Denn niemand hindert sie, diesen gründlich zu vernachlässigen, nicht zu besuchen. In Zeiten von Covid besonders einfach und organisatorisch (Hygiene!) geadelt.
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Kaum daß der Vollziehung irgendein Versäumnis unterlaufen ist, neigt die aufsichtspflichtige, weisungsberechtigte und letztverantwortliche Regierung dazu, zusätzliche Strafnormen zu erfinden, etwa zum „Terrorismus“. Diese Aktivität lenkt davon ab, daß Polizei und Geheimdienst die Informationen ausländischer Dienste über Waffen- und Munitionskauf durch einen IS-Sympathisanten nicht an die Justiz weitergegeben haben. Die hätte mit dieser Information den vorzeitig entlassenen, späteren Mörder rechtzeitig wieder eingesperrt. Die Gesellschaft muß sich vor manchen Individuen tatsächlich durch Wegsperren schützen.
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Ich träume von einer Gesellschaft, in der es keine Strafen mehr gibt. Nur noch das Urteil über Täter und Straftat, über Schadenersatz, Wiedergutmachung, Anordnungen zur Resozialisierung, erforderlichenfalls Therapie des Täters und Sicherheitsverwahrung. Das wird was kosten, aber viele Arbeitsplätze schaffen für Medizin, Psychologie, Sozialarbeit, Betreuung. Diese Arbeit werden die Automaten, die uns in der Produktion von Gütern und bei vielen Dienstleistungen ersetzen, noch lange nicht hinkriegen.
Anmerkungen:
Bibelzitat, Sprüche 13 – 24
Stopp Corona App des ÖRK
Verfassungsgerichtshof, Erkenntnis vom 11.12.2020:
https://www.vfgh.gv.at/medien/VfGH__Es_ist_verfassungswidrig__jede_Art_der_Hilfe_zu.de.php
Der Vergleich, wer Beihilfe zum Selbstmord leiste, schubse den Lebensmüden von der Brücke, stammt von Kardinal Schönborn.
Mißglückter Selbstmord bei Soldaten als Delikt nach Claude Guillon/Ive Le Bonniec in Gebrauchsanleitung zum Selbstmord, Robinson Verlag, S. 63 ff.
Der „Dammbruch“, an Selbsttötungen zufolge Straflosigkeit der Beihilfe ist in der Schweiz und Deutschland seit jeher ausgeblieben.
Anstatt die Opfer gegen Gewalt durch frühe Intervention und Sozialarbeit besser zu schützen, verschärft die Regierung gerne die Strafdrohung:
Die Quote von Gefängnis-Einsitzenden in Österreich ist höher als (in absteigender Reihenfolge) die von Dänemark, Kroatien, Italien, Schweiz, Irland, Deutschland, Slowenien, Norwegen Zypern, Schweden und Finnland, sh. https://de.euronews.com/2018/03/21/welches-land-hat-die-meisten-haftlinge-in-europa-
Auch der Unterhalt von Gefängnissen ist teuer. Ein Häftling kostete im Jahre 2016 täglich rd. € 125.
Europa hat zwar einen einheitlichen Leitzins und demnächst einen gemeinsamen Digital Services Act, aber mehr als zwei Dutzend durchaus unterschiedliche Strafrechte.