Von Albert Wittwer
Vorerst sind Bruchteile der Chat-Protokolle, trotz allen Löschens und Schredderns, an die Öffentlichkeit gelangt. Fortsetzung folgt. Wie auch nicht. Wer nicht zur Unterhaltung beitragen will, möge die Politik meiden. Aber in Wahrheit genießt unsere Nomenklatura die Aufmerksamkeit in allen Medien, posiert und polarisiert durchaus auch absichtlich, und ihre Mitglieder befürchten ihren sozialen Tod, sollten sie eine Woche lang öffentlich nicht präsent sein. Dann lieber ein kritischer Artikel als das Schweigen der Blätter.
Personen mit hohen, blendend bezahlten Positionen im öffentlichen Dienst müssen sich nach ständiger Judikatur gefallen lassen, daß ihre Privatsphäre weniger strengem Schutz unterliegt als die unserer Hausärztin oder unseres Violinlehrers. Einen ähnlichen Schutz können die Regierungsmitglieder und Ihre Generalsekretäre bestimmt für ihr Liebesleben beanspruchen, das sicher allen Benimmregeln entspricht und völlig ohne Zwang auskommt. Wir trauen den hohen Herren zu, daß sie auch Freundschaften außerhalb aller Zweck- und Geschäftsmäßigkeit unterhalten und pflegen. Die sind ebenso ihre Privatsache.
Führen sie aber die Geschäfte für uns, nämlich Regierungsgeschäfte, Angelegenheiten des Staates, sind sie uns verantwortlich. Wir werden durch die Justiz, die Rechnungshöfe, auch durch die unabhängigen und die öffentlich-rechtlichen Medien vertreten. Der Staat, die Republik gehört den Funktionären nicht. Sie sind nicht Herrscher von Gottes Gnaden. In ihrer Machtfülle, umgeben von Dienstbereiten und Schmeichlern, neigen sie dazu, es zu vergessen.
- Gelegentlich hört man die Meinung: Die da oben sind alle gleich. Das halte ich für unzutreffend, für den untauglichen Versuch, ein aktuelles Delikt durch ein vereinzeltes, ungesühntes früheres zu entkräften, Absolution durch Whataboutism.
- Drei weitere Verteidigungslinien weisen darauf hin, daß die Spin-Doctoren noch gut im Futter stehen. Die öffentlichen Kritiker der bisher bekannten Chats seien Moralisten, die ihre individuellen Moralvorstellungen höher werten als die Rechtsordnung, wonach die Unschuldsvermutung bis zur rechtlichen Verurteilung wegen der im Raum stehenden Veruntreuung gelte.
- Noch grober wird der Verteidigungsversuch mit dem Hinweis, die Chat-Kritiker setzten sich, ähnlich wie ein islamistischer Ehrenmörder, über das Gesetz. Sie vergleichen das Veröffentlichen eines Chat-Protokolles mit einem Mord. Mehr kann ein Vergleich nicht hinken. Klar, schon die Soko Ibiza ist in Soko Tape umbenannt worden.
- Da mutet es schon originell an, wenn kritisiert wird, daß die beiden Burgschauspielerinnen und die vier Schauspieler, die in wechselnden Rollen die Chats auf Video vorgetragen haben, damit das Urheberrecht verletzten. Zum Glück steht der Klageweg für die Chat-Akteure weit offen!
Arbeiten die Spin-Doctoren jetzt für zwei Herren, bezahlt von uns im Wege des Bundeskanzleramtes?
Es ist an der Zeit, das Informationsfreiheitsgesetz endlich durch das Parlament zu bringen und in diesem das absichtliche oder fahrlässige Löschen, Schreddern und Zerstören geschäftlicher, nämlich staatsrelevanter Information ausdrücklich zu verbieten. Es wurde schon vor Jahren versprochen. Wie lange müssen wir noch darauf warten? Ob es im Gepäck des Antikorruptionsvolksbegehrens eine Chance hat? Denn „Die politischen Geheimnisse begünstigen die Kunst der Intrige und des Betruges.“ Noberto Bobbio.
Anmerkungen:
https://www.derstandard.at/story/2000130446911/burgschauspieler-tragen-aus-chatprotokollen-vor
Antikorruptionsvolksbegehren: https://antikorruptionsbegehren.at/der-inhalt/#page-content