Gerhard Wanner: Ein katholischer Priester aus Vorarlberg über Ungarn im Jahr 1900 – Teil 3

Gsi.News Chefredakteur Bandi Koeck (links) mit Prof. Gerhard Wanner vor seiner Vorarlbergensien-Bibliothek im Domizil Bazora. Foto: derpodcaster.com

Zigeuner – Antisemitismus und Deutschtum sind u.a. die heutigen Themen. Gsi.News sind die Ersten, welche das noch unveröffentlichte Buch als Serie bringen dürfen: Mit diesem Buch legt Univ.Prof. Dr. Gerhard Wanner den bislang einzigen Bericht eines Vorarlbergers über ungarische Kultur vor – ein ethnologisches Pionierwerk, das seiner Zeit weit voraus war. Der Text, der heute der sozialen und kulturellen Ethnologie zuzuordnen ist, entstand noch bevor in Ungarn selbst 1889 die wissenschaftliche Ethnologie begann.

Katholische Kirche und die Volkspartei

Die einzige Lösung aus dieser Krise und für eine bessere ungarische Zukunft sah Hartmann bei der ungarischen katholischen „Volkspartei“. Und er geriet bei seinem Ungarnbesuch mitten unter ihre Parteiführer, mit denen er Gespräche führte. Dazu gehörte vor allem Molnár Janos, der ihn faszinierte, der es ihm angetan hatte:

Eine majestätische Erscheinung, hoch gewachsen, mit hoher Stirne, kerzengerader Haltung, mit fließender Sprache und einer Löwenstimme, in Mitte der Vierziger stehend, ein Mann ohne Furcht und Ehrgeiz, von kirchlicher Gesinnung und ganz vom Glauben erfüllt […] die katholische Volkspartei liebt er derart, daß er wohl jeden Augenblick bereit wäre, für sie zu sterben.

Er war für Hartmann ein gründlicher Kenner des ungarischen Volkes, und was er vor allem hervorhob, „durch und durch Antisemit“. Er werde die Partei „über kurz oder lang zum Siege“ führen, er sei der „geborene siegreiche Unteroffizier der katholischen Partei“. Die Führung der Partei liege heute jedoch bei den Grafen Zichy, wie es überhaupt die Aufgabe der Partei sein müsse, sich gegenüber den Laien zu öffnen. Es sei eine „naive Ansicht“, zu glauben, die Führer der Volkspartei müssten „naturnotwendig“ die Bischöfe sein. Diese seien jedoch an Politik nicht interessiert.

Hartmann erlaubte sich den guten Rat, wollten die Führer der katholischen Volkspartei an die Regierungsmacht gelangen, müssten sie ihre „religiösen und kirchlichen Bestrebungen in die zweite Linie rücken, um vor allem ein sozialreformatorisches Programm aufzustellen.“ Die Chancen dazu stünden gut, weil die Entstehung der Volkspartei eine „Reaktion der ungarländischen Bevölkerung gegen die Verjudung des öffentlichen Lebens und das furchtbare Anschwellen des Einflusses des Judentums auf die Gesetzgebung und Verwaltung“ gewesen sei. Jedoch, in der ungarischen Regierung säßen seit der letzten Wahl zahlreiche Männer, vor allem Agrarier, die fest entschlossen seien, den jüdischen Einfluss zu bekämpfen und die so dringend erforderliche Sozialarbeit zu fördern. Dann würden der Partei die „Wähler in Massen zuströmen“.

Hartmann, Mitte August 1900 in Budapest zum dreitägigen Katholikentag eingeladen, vertraute den unter den viertausend Teilnehmern anwesenden jungen „Hetzkaplänen“. Der größte Teil des Klerus „aller Rangstufen“ beschränke seine politische Tätigkeit darauf, die Volkspartei zu kritisieren, statt sie zu unterstützen (10. 11. 03). Hartmann hatte richtig erkannt, der ungarische Klerus hatte wenig Interesse an sozialen Programmen, weil diese ihre feudalen Privilegien zu beschränken drohten. Das beste Beispiel für ihn war der Besuch im prunkvollen Benediktinerkloster Pannonhalma.

Aber auch das, was der Vorarlberger von „ausgezeichneten Männern“ erfuhr, war wenig aufbauend:

In Ungarn gibt es wenig kirchlich gesinnte Bischöfe. Die meisten schauen mehr der Regierung als dem Papste zu gefallen. In Ungarn ist der Bischof Papst, der Pfarrer Bischof und der Kaplan Pfarrer. In einzelnen Diözesen ist überdies auch die sittliche Zucht der Klerus gebrochen. (5. 1. 04)

Ähnliches bemerkte sein Reiseleiter, auf den „Stockzähnen“ lächelnd, anlässlich der prunkvollen Prozession in Gran. Der ungarische Klerus lechze sehr nach „Ehren“, freilich es gebe rühmliche Ausnahmen, welche „die Zeit verstehen und die Not ihres Volkes kennen“ (24. 11. 03). Nicht viel anders waren seine Erfahrungen in der Diözese Raab: Die Bischöfe regierten autokratisch, und die Domherrn hätten nicht viel anderes zu tun „als die reichen Stiftungen zu verwalten und den Gottesdienst zu lesen“ (6. 11. 03). Da der Ortspfarrer einem „Bischof gleichgesetzt“ wurde, verstand der erstaunte Vorarlberger Pfarrer bei seinem Besuch in Pannonhalma, warum ein Pfarrer „zwei schöne Pferde“ haben müsse, „sonst hätten die Bauern keinen Respekt vor ihm. Denn Ungarn ist das Land der schönen Pferde“ (22. 9. 03).

Gab es somit „wirklich“ gläubige Katholiken? Pfarrer Hartmann glaubte solche auf seinen Reisen durch Ungarn getroffen zu haben. Erstmals war dies zu Beginn der Reise in einem Dorf. Als er mit seinem Begleiter am Pfarrhof angekommen war, kamen die „dienenden Geister und küssten uns die Hände“. Der Dorfpfarrer war jedoch mit seinen Schäfchen nicht ganz zufrieden. Er verwies auf seinen „Beschrieb des Sakramentenempfanges“, in dem er die Zahl der Beichten und Kommunionen „gewissenhaft notiert“ hatte: „Die Frauen und Jungfrauen gehen fleißig zu den Sakramenten, die Männer halten sich meist an das Äußerste“ (22. 9. 03). Es scheint, dass auch anderswo die Frauen die Stützen der katholischen Kirche waren. Beim Allerheiligenfest in Budapest und der dazugehörenden „Sakramentenprozession“ waren ca. 30.000 Teilnehmer beteiligt, „darunter allerdings 80% Frauen“ (29. 12. 03). Und mit seinem Freund Molnár hatte Hartmann ein ähnlich positives Erlebnis. Als dieser nach der Messe in Gran im violetten Talar den Prunkwagen bestieg, „begann ein wahrer Sturm von Begeisterung unter dem Volke. Alles rief Eljen Molnar Janos!“Hartmann schloss daraus, dass die katholische Volkspartei im „ungarischen Volke bereits festen Fuß gefaßt und eine hoffnungsvolle Zukunft hat“ (20. 11. 03). Hartmann sollte Recht erhalten: Als seine Beiträge 1903 im Vorarlberger Volksblatt veröffentlicht wurden, kam es in Budapest zur Gründung eines katholischen Arbeitervereines, der von der Zeitung Uj-Lap unterstützt wurde. Ein Jahr später fand der ungarische Katholikentag statt und der erste katholische Arbeiterkongress Ungarns mit 500 Teilnehmern. Es sprachen der erste ungarische Sozialpolitiker, Professor Dr. Gießwein, und Ignaz Szó zum „Stande der Feldarbeiter“ (9. 11. 04).

Das ungarische Volk

Wer war nun dieses ungarische Volk? Zumindest über die Männer wusste Hartmann Bescheid. Gleich zu Beginn seiner Reise hatte er sich festgelegt:

Es ist ein Mann, fast wie ein Riese mit hoher Stirne und gewaltigem Schnauzer und stechenden Augen. Es sind das drei charakteristische Zeichen des ungarischen Mannes. (25. 9. 03)

Dazu kam, dass der Ungar „vor allem“ ein Gefühlsmensch sei. Seine Stärke habe er im Gemüht, seine „schwächere Seite hat er im Kopf“. Daher fände man in Ungarn auch keine Mathematiker und Philosophen, was freilich kein Unglück sei. Denn bei den zahlreichen deutschen Philosophen gebe es keine „Narrheit“, die sie nicht hervorgebracht hätten. Entschuldigend Hartmann: „Daß wir so viele Philosophen haben, beweist allerdings, daß wir Deutsche bedeutende Neigung haben zum Denken“ (11. 9. 03). Es sei daher auch nicht verwunderlich, dass viele Ungarn, selbst Gebildete, unter Minderwertigkeitskomplexen litten. Die Frage an Hartmann, die wiederholt gestellt wurde, war, ob er die Ungarn für ein „halbbarbarisches Volk“ halte, weil sie in der Kultur „noch etwas zurückgeblieben“ seien. Der artige Priester verneinte natürlich, „was den hohen Herren ungemein wohl tat“ (6. 11. 03). Aus den zahlreichen kleinen Bemerkungen erhält man den Eindruck, dass Hartmann von den Intellektuellen, meist Liberale oder Juden, nicht viel hielt.

Die positive Zukunft für das Land sah er beim „christlichen Landvolk“. Es sei die gebildetste Gesellschaftsklasse. Trotz ihrer menschlichen Armseligkeiten besäßen sie die „höchste Herzensbildung“. Bei ihnen seien alle christlichen Tugenden zu finden wie Genügsamkeit, gerader Sinn, Treue, Freude über das leidlichste Gute, Harmlosigkeit, Dulden und Ausharren. Unter ihnen sei keine Vergnügungssucht zu finden. „Das ungarische Volk ist mit seinen einfachen Sitten von dieser Gefahr noch viel weiter entfernt“ (9. 10. 03). Und sauber und reinlich war dieses Volk noch dazu, habe „Sinn für das Schöne“. Der Beweis dafür sei, dass sie den Misthaufen hinter dem Haus und nicht an der Straße vor dem Stubenfenster gelagert hätten. Anders in Südungarn und in Siebenbürgen, dort sei „Schmutzerei Trumpf“. Dann kam aber doch der Vorarlberger Patriotismus auf: „Übrigens steht Vorarlberg, was Reinlichkeit anbelangt, hoch da, und gewiß hoch über den Ungarn“ (2. 10. 03).

Deutschtum

Priester Hartmann sprach nicht ungarisch, was für ihn jedoch kein Problem darstellte, wenn es um die Befriedigung seiner ‚ethnologischen’ Neugierde ging. Denn in jenen Kleriker-Kreisen, in denen er sich bewegte, beherrschten fast alle die deutsche Sprache. An den Obergymnasien war Deutsch obligater Unterrichtsgegenstand. Und auch die zahlreichen Juden sprächen wegen ihrer Geschäfte deutsch. Ihm gefiel das Ungarische, das er, bei den Predigten sorgfältig gesprochen, für „wirklich schön“ hielt – wegen der vielen Selbstlaute. Ein ungarischer Spiritual und „Stockmagyar“ meinte gar: „so schöne Sprache gibt’s keine“. Einem Vergleich mit dem Deutschen hielt sie jedoch bei Hartmann nicht stand:

Unsere deutsche Sprache ist reich an Formen, reich an Geist, aber die Liebe, die sie verdient, findet sie längst nicht mehr, sonst würde sie nicht so entehrt und verunstaltet durch einen förmlichen Fremdwörter-Wust. (25. 9. 03)

Nur an wenigen Stellen berichtet er über das „Deutschtum“ der deutschen Minderheit in Ungarn. Anlässlich seines Aufenthaltes in Ödenburg (Sopron) fiel ihm auf, dass in der alten, bedeutendsten westungarischen Handelsstadt, einst mit „deutschem Charakter“, nur wenige Deutsch sprachen, sie sei ein „Bollwerk der Magyarisierung“ geworden. Dies sei damit zu erklären, dass es den Ödenburgern in „Magyarien“ wirtschaftlich so gut gehe (11. 9. 03).

Auch über Budapest wies er darauf hin, dass Ofen einst eine deutsche Stadt gewesen sei, auch heute lebten hier noch über 100.000 Deutschsprachige, und doch gebe es in der ganzen Stadt keine deutsche Volksschule. Hartmann ließ sich mit seinen Kollegen jedoch in keine Nationalitätenproblematik ein. Er wusste zu genau, dass dies nicht gut ankam. Aber einen kleinen Seitenhieb gab es dann doch: Ungarn hätten ihn gefragt, ob er wisse, woher der Name „Ungarn“ komme? Die Deutschen hätten ihn von „Ungern“ abgeleitet, weil sie „ungern“ neben Ungarn gewohnt hätten. Hartmann: „Man möchts fast glauben, wenn es damals schon die Judenmagyaren gegeben hätte“ (22. 1. 04).

Antisemitismus

Wenn man das Bild des Vorarlberger Geistlichen über Ungarn zusammenfasst, dann hatte er seinen Lesern wenig Positives zu berichten. Und völlig feindlich, geradezu pathologisch von Hass erfüllt war seine Einstellung gegenüber dem ungarischen Judentum. Sicherlich war Hartmann geprägt von der antisemitischen Einstellung der Vorarlberger Christlichsozialen und ihren im Vorarlberger Volksblatt ständig veröffentlichten „Enthüllungen über das Treiben der Juden“ und „Verschwörungen der Judäomagyaren“ (2. 3. 1900 u. 26. 11. 1903).

In Ungarn ortete er so etwas wie eine gigantische und allmächtige jüdische Weltverschwörung. In seinen 32 Beiträgen finden wir in mehr als der Hälfte offene und feindselige Angriffe gegen das Judentum. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, auf die Details einzugehen. Es soll jedoch aufgezählt werden, wofür er und seine Begleiter die Juden in Ungarn verantwortlich machten: Regierungsbeteiligung und Einfluss auf die Gesetzgebung; Aufkauf von Reichstagssitzen; Bestechung; „Verjudung“ des öffentlichen und kulturellen Lebens; Pressemonopol; Handelsmonopol; Börsenmonopol; Gestaltung der Preisbildung von Immobilien und Grundstücken; Korn- und Viehpreiswucher; Zinswucher, angeblich bis zu 30 %; Ankauf und Pacht enteigneter Güter aus Staatsbesitz; Diebstahl des Volksvermögens; Hetze gegen reiche Klöster; Ankauf verstaatlichter Klöster; Ausbeutung und dadurch Verarmung des Bauernstandes, als Folge Auswanderung einer halben Million ungarischer Bauern zwischen 1870 und 1880; Missachtung des Staatsgesetzes bezüglich Sonntagsruhe; Desertation aus dem Militärdienst.

Die christlichen Völker hätten „dieses Brot lange genug gegessen“, freilich, es sei die Strafe für ihren Abfall von Gott. Dagegen helfe nur ein „kerngesunder Antisemitismus“ (8. 9. 03). Und es liege im „Plane der Vorsehung“, dass die ungarische Kirche durch die „Schröpfköpfe der Regierungs- und Börsenjuden“ endlich aufgeweckt werde (6. 11. 03). Hartmann sah sich in Budapest stets von Juden umgeben, sah sich die Geschäftsschilder an, um ja nicht in einem Judengeschäft einzukaufen. Die Christen seien in Budapest die Sklaven des jüdischen Kapitals. Hartmann wunderte sich, ob das so bleiben werde, und erhielt die für ihn wohl beruhigende Antwort:

Wir machen jetzt noch eine Zeit lang die Fäuste im Sacke. Aber lange halten wir es nicht mehr aus, dann ziehen auch wir die Fäuste aus dem Sacke. Die Wiener haben uns ein gutes Beispiel gegeben. (5. 1. 04)

Seinen Freund und Führer der katholischen Volkspartei, Janos Molnár, hörte er sagen: Der Antisemitismus werde in Ungarn „förmliche Wunder wirken zum Erstaunen der Welt und zum Schrecken der Juden“. Es sollte sich 1944 bewahrheiten.

Zigeuner

Und was hielt er von den Zigeunern? Mit einigen Wenigen war er nur in Gasthöfen in Kontakt gekommen. Ohne Zigeunermusik gebe es keinen Tanz. In den Städten begegne man ihnen fast in jedem Gasthof. „Ohne Zigeuner gibt es kein Geschäft!“ Ihr Musikspiel habe aber auch Schattenseiten, wie er erfuhr: Es herrsche nämlich die Unsitte, dass sich „Tischgesellschaften“ vom Zigeunerprimas eine „Lieblingsnote“ vorspielen ließen. Diese spiele vor allem in den späten Nachtstunden, zusammen mit Alkohol, eine verhängnisvolle Rolle: „Im Zeichen der Großtuerei rauscht die gewünschte Lieblingsnote und dann fliegt die Banknote.“ Auf diese Weise habe die Zigeunermusik schon „Millionen und Millionen des ungarischen Volksvermögens verschlungen“.

Hartmann, mit dem Domherrn in einem dieser Lokale, wurde ebenfalls mit einem solchen „Primas“ konfrontiert. Die beiden lehnten jedoch den aufdringlichen Musikanten ab und vermochten sich zu ihrer „Ehre“ von einer „Lieblingsnote“ mit zwei Kronen „freizukaufen“ – „bekamen aber kein Extrastück“ (13. 11. 03). Eine weitere negative Einstellung gegenüber Zigeunern vernahm er in Budapest im Garten seines Hotels. Der ungarische Kellner meinte über seinen Kollegen, der ein Zigeuner war:

Bekommt der Zigeuner zuerst eine Geige in die Hand, so wird er Musikant. Bekommt er aber zuerst ein Goldstück in die Hand, so wird er ein Dieb. (22. 12. 03)

Mehr erfuhren die Vorarlberger Volksblattleser über die Zigeuner nicht.

Die mobile Version verlassen