Von Dr. Albert Wittwer
Über die Europäische Union zu jammern, ihre vermeintliche Zerstrittenheit zu beklagen, sie als bürgerfernes Bürokratiemonster zu diskreditieren, gehört zum fixen Repertoire politischer Funktionäre. Die reden sich ständig auf die EU aus. Oft sind es dieselben, die als Ratsmitglieder, also als Ministerpräsident oder nationaler Minister im Europäischen Rat, der höchsten Ebene der Zusammenarbeit zwischen den Ländern, eine Entscheidung verhindern oder verzögern. Geradezu klassisch ist in diesem Zusammenhang die Flüchtlingspolitik. Und die EU ist auch unentbehrlich für die Medien, die „schlechte“ Nachrichten brauchen, alles andere bekommt keine Aufmerksamkeit und schadet der Auflage. Brüssel ist weit weg und inseriert nicht.
1. Verlust an nationalstaatlicher Eigenständigkeit? Die Souveränität geht (in Ungarn, Polen u.a.) mit Nationalismus einher. Sie ist ein veraltetes Konzept. Was hat sie mit Heimat zu tun, mit dem „Hoamatle“? Wer oder was ist schon das Volk? Sind es die Burgenländer, die Wiener? Wer darf Wiener sein? Zukunftsweisend ist die Subsidiarität: Daß die Grazer mit den von ihnen gewählten Organen erledigen, was von der regionalen Gemeinschaft erledigt werden kann usw. Die Entscheidungen des deutschen, auch des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, subsidiär in Bezug auf Europa, sind richtigerweise von größter Bedeutung für unser aller Wohlergehen, dies auch deshalb, weil sie wegen der Qualität, Ethik ihrer Überlegungen niemals von den europäischen Institutionen übergangen werden.
2. Der Euro: Währungspolitische Fehlleistung? Die Krise etwa in Italien ist nicht eine Währungskrise Sie könnte durch Abwertung nicht behoben werden. Was der italienische Staat leisten könnte, wäre kluges staatliches Schuldenmachen für die Modernisierung der Infrastruktur. Wichtig wäre die Reduktion von Zentralismus, Nepotismus und Schlendrian. Weiters Wirtschaftsreformen, wie sie in Irland und Portugal gelungen sind. Abwertung einer neuen Lire würde die Einfuhren so drastisch verteuern, daß die Vorteile beim Export überkompensiert würden. Allerdings wird der Neoliberalismus (nicht in seiner wissenschaftlichen, sondern aktuellen politischen Bedeutung) als Naturgesetz betrachtet, was er nicht ist. Es ist erforderlich die staatliche Regulierung auszuweiten und v.a. die Steuerflucht zu verhindern. Das kann, wenn überhaupt, nur auf supranationaler Ebene gelingen. Also müßten die großen Steuersünder in der EU, d.s. Luxemburg, die Niederlande und Irland gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten Kompetenzen an die EU abgeben. Auch die Schweiz könnte sich dem Druck der EU nicht entziehen. Wer dem einzelstaatlichen Nationalismus das Wort redet, begünstigt die Steuerflucht.
3. Die Verteilung des Volkseinkommens ist in Schieflage: Etwa 30 % des Volkseinkommens geht an die Besitzer der Automaten und die Finanzakrobaten. Alle Angestellten, Werktätigen, unselbständig Beschäftigten müssen sich den Rest teilen, wobei die Höhe der Gehälter willkürlich ist. Dieses Verhältnis war früher etwa 20 % zu 80 %. Die (ausgeschütteten) Dividenden in Ö stiegen von 201 auf 2019 um 17 %. Die Löhne allenfalls um 2,5 %. Sie stagnieren etwa seit Anfang der 90er. Eine Neuverteilung ist einzelstaatlich nicht umsetzbar; sie erfordert überstaatliche Regulierung. „Das Kapital ist zwar ein scheues Reh“, aber es kann auf Europa nicht verzichten. Die Angst, bei mehr Regulierung würden die Weltkonzerne Europa als Absatzgebiet oder Produktionsstätte verlassen, ist vorgeschoben.
4. Innerstaatlich bleibt genug zu tun: Ich vermute, daß sich Vollbeschäftigung bei fortschreitender Automatisierung nicht aufrechterhalten läßt, also etwas Ähnliches wie ein Grundeinkommen und die Reduktion der Arbeitszeit kommen sollte. Man bedenke, wie viele Bullshit-Jobs mit phantastischen Titeln und Bezeichnungen wenig oder nichts für den Wohlstand leisten, sondern bloß Wertschöpfung abrahmen. Wenn beispielsweise alle Hochfrequenztrader und alle Medienagenten und Politik-Consulter ein halbes Jahr ihre Arbeit einstellen, geht es uns allen besser. Das ist allerdings bei den Krankenpflegerinnen, Lehrern, Abfallsammlern und Feuerwehrleuten nicht der Fall. Die Reduktion der Arbeitszeit und die Neubewertung der Arbeit kann nur gelingen, wenn wie oben erwähnt, die Eigentümer der Automaten und Maschinen, deren Anteil an Produktion von Gütern und Dienstleistungen ständig zunimmt, zur Finanzierung herangezogen werden. Auch eine Verringerung des Konsums ist erforderlich, gleichzeitig mit Energieeinsparung, schon aus Umweltschutzgründen. Bei Umwelt- und Naturschutz gibt es bereits einen europäischen Ansatz.
5. Was als Selbstverständlichkeit gilt, es nicht ist, aber eine eigene Betrachtung wert wäre, wenigstens in Schlagworten: Friede innerhalb der EU seit dem Jahre 1945. Personenfreizügigkeit, Freiheit der Berufsausübung und wirtschaftlichen Betätigung, Freiheit des Zahlungsverkehres, der Warenlieferungen und Dienstleistungen. Diskriminierungsschutz im Einklang mit der europäischen Grundrechtscharta. Nur die EU ist global verhandlungsfähig. Selbst die größeren europäischen Staaten haben in Direktverhandlungen mit den global Players USA, China, Russland – und mit den großen Konzernen – keine Chancen. Wenn die Ministerin eines kleineren Staates mit – sagen wir Airbus – wegen Vertragsverletzungen Gespräche führen will, bekommt sie nicht einmal einen Termin.
6. Die Mühen (Mühlen) der Demokratie Wer jemals auch nur auf Gemeindeebene miterlebt hat, wie schwierig und zeitraubend es sein kann, sich auf Entscheidungen zu einigen, versteht, daß angesichts der Komplexität der Herausforderungen und des Spannungsfeldes jeder Solidarität ein längeres Verfahren zu jedem Thema der Preis ist, der bezahlt werden muß, um nicht in einer nur vermeintlich wohlmeinenden Diktatur zu versinken. Reformen sind für die Europäische Union notwendig. Jedenfalls ist es dringend, mehr direkte Demokratie bzw. direktere Legitimation der europäischen Entscheidungsträger zu etablieren.